Graue Mäuse gegen schwarze Ratten

Foto© Andrea Rüter/1000 Gestalten.

Was passiert, wenn man herrschenden Verhältnissen mit Ignoranz und Kritiklosigkeit begegnet, also gar nicht? Dann wird man zu einer grau verkrusteten Gestalt mit leerem Blick und hängenden Schultern, die sich, endlos Endzeitlichkeitsatmo verströmend, müde dahinschleppt, alles kaputt, Wille gebrochen oder nie da gewesen, von Körperfressern ausgehöhlt. Will man das? Nee. Jedenfalls nicht länger als ein paar Stunden. Irgendwann wird das Jucken der grauen Paste auf der Haut doch bestimmt unerträglich, und spätestens dann muss man aufwachen aus der Lethargie und sich das Graue vom Leib reißen, damit das Bunte darunter zum Vorschein kommt, so wie im Film Pleasantville auf einmal Farbe in die heile Schwarzweiß-Welt zu dringen beginnt, quasi als Äquivalent zu Evas Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis, aber das ist eine andere Geschichte, wo waren wir gleich? Ach ja, bei den „1000 Gestalten“, jener Hamburger G20-Protest-Performance, die zu einer von grauen Mäusen veranstalteten Entertainment-Aktion verkommen wäre, hätten ihr nicht die schwarzen Ratten den Gefallen getan, sie zu einem dann doch wirkungsvollen Kommentar zu erheben. Wären alle Proteste in Hamburg friedlich verlaufen, hätten die grauen Gestalten vielleicht ein bisschen hanseatisches Wasdasnunwiedersoll-Kopfschütteln erhalten, um sogleich wieder ins Aus-dem-Auge-aus-dem-Sinn-Nirwana zu entschwinden. Denn (sorry, ihr lieben guten Menschen, die ihr glaubt, Kunst könne die Welt verändern) Bilder sind kein Protest, Bilder sind keine Aktion, Bilder sehen einfach nur aus. Entweder gut oder schlecht, oder egal Hauptsache instagramable (siehe dieses zu einem Meme geadelte G20-in a nutshell-Selfie), oder anders als gewollt, oder sollte das Finale der 1000-Gestalten-Performance etwa genau so aussehen wie diese Goa-Color-Machdichfrei-Raves?

Das Finale nämlich bestand darin, dass ein graues Wesen nach dem anderen begann, sich den Lehm aus den Haaren zu rubbeln, sich der Kleidung zu entledigen und die bunten Shirts darunter freizulegen, bis irgendwann alles voll schön bunt war und frei und glücksverströmend, weil die grauen Wesen nicht nur nicht mehr grau waren, sondern auch lachten und tanzten und aus dem gegenseitigen Umarmen gar nicht mehr rauskamen, so beseelt davon, wie einfach man die Welt verändern kann, wenn man nicht grau ist, sondern bunt, Gott, war das schön!

©1000 Gestalten.

Auf diesen Goa-Color-Events wird ja immer mit Farbe geworfen, als Symbol für Unity und Lebensfreude. Mit Farbe werfen… Auch wenn sie nicht intendiert war, es ergibt sich tatsächlich eine verblüffende Beziehung zwischen den resignierten Grauen und agitierten Schwarzen von Hamburg: Wären die Schwarzen nicht gewesen, Grau wäre aller Buntheit zum Trotz nur Grau geblieben. Aber im Kontrast mit Schwarz wurde Grau zu Weiß – zum Sinnbild des friedlichen Protestes. Nur leider unverdient. Denn auch wenn die 1000 Gestalten dafür sorgten, dass es auch noch anderen Gesprächsstoff gab als die Ausschreitungen, sie lenkten genauso davon ab, wer abgesehen von den G20-Verhandlungen eigentlich am meisten Aufmerksamkeit hätte erhalten müssen: jene Menschen, die statt diffuser Bilder konkrete Anliegen auf die Straße brachten – nicht als Performer, sondern als Bürger.

Umfassende Dokumentation von „1000 Gestalten“ in Foto und Video auf 1000gestalten.de