Die DDR als Manufactum-Katalog

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M. Weisser, Butterpackmaschine Impulsa, o.J. ©Daily GDR.

Manche Kunst muss erst auf dem Müll landen, bevor sie groß wird. Wie im Fall eines Konvoluts von Fotoabzügen, die der Berliner Grafiker Martin Baaske beim Entsorgen von Papierabfall in einem Altpapier-Container fand. Weil viele davon in Umschlägen steckten oder rückseitig beschriftet waren, konnte Baaske ungefähr einordnen, worum es sich bei seinem Fund handelte: um Presse- und Dokumentarfotografie aus der DDR, zumeist aus den sechziger Jahren, bestimmt zur Abbildung in DDR-Zeitschriften.

Schöne Fotos, erkennt das geschulte Auge auf den ersten Blick. Merkwürdige Fotos, auf den zweiten. Denn offenbar sollten die Bilder vom Alltag in der DDR, von Passanten beim Einkauf, Vereinstreffen, Sportveranstaltungen oder Produktionsstätten die Realität auf ganz besonders reale Weise abbilden – und gerieten so zu Inszenierungen einer Inszenierung.

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Heinz Lungwitz, Schnee, Leipzig o.J. ©Daily GDR.

Aus den Fotos spricht Sehnsucht nach einem schönen Leben, nach Leichtigkeit, Sinnlichkeit und Intensität, und nach einer Ordnung der Welt in klar definierte Situationen und Handlungen. Die Welt wird nicht abgebildet auf diesen Fotos, sondern sie wird aus ihnen erschaffen. Neu, gut und richtig. Die DDR als Manufactum-Katalog. Schauen Sie hier, dieser formschöne Winterwald aus makellosen Nadelbäumen, die perfekte Kulisse für den großen Langlauf-Spaß aus heimischer Produktion (mit langlaufenden Menschen als Serviervorschlag). Und da haben wir die Situation „Kunstbetrachtung mit Kennerschaft zur Anleitung für den interessierten Laien“. Oder dort, das wunderbare Erlebnis „Stadtbummel mit Schaufensterbetrachtung als verdienter Zeitvertreib für zufriedene Bürger“. Und nicht zu vergessen natürlich die Wertschätzung des beeindruckenden Leistungsvolumens unserer Produktionsanlagen, klar verständlich illustriert durch intensiv interessierte Blicke und deiktische Gesten der einer Maschine beigestellten Personen.

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Rainer Lehmann, Bummel, Leipzig o.J. ©Daily GDR.

Na, kein Wunder diese Überinszenierung, ist doch ganz klar DDR-Propaganda-Material, oder? Zum Teil vielleicht schon. Zum Teil scheint es aber, als hätten die Fotografinnen und Fotografen das Prinzip von Überhöhung und doppelter Inszenierung sehr bewusst zu ihren eigenen Gunsten genutzt und sich mit der Ausweitung der Grenzen der Wirklichkeit schön viel Raum für den eigenen künstlerischen Ausdruck geschaffen. Dass man ständig das Gefühl hat, nicht genau zu wissen, was man sieht, liegt auch an der teilweise herausragenden Qualität der Fotografie. Komposition, Licht, Timing sind oft so perfekt, dass die banalsten Momente zu bedeutungsschweren Szenen erhoben werden. In manchen Bildern liegt die narrative Gewalt eines Shakespeare-Dramas, jedes Detail scheint ein Geheimnis zu bergen. Das Fluktuieren zwischen Banalität und Überhöhung, zwischen Realität und Fantasiewelt verleiht diesen Fotos einen über den Kontext ihrer Entstehung weit hinausgehenden Wert. Sie sind Kunst.

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Theaterfotografie von Helga Wallmüller, Leipzig o.J. ©Daily GDR.

Beim Recherchieren der Fotografennamen stößt man auf interessante Geschichten und Werkkomplexe, die den Eindruck der künstlerischen Qualität bestätigen. Auch bekanntere Namen finden sich darunter wie die Theaterfotografin Helga Wallmüller, die als Pionierin auf ihrem Gebiet galt und die sich bei der Abbildung des DDR-Bühnengeschehens auf sehr spezifische Weise mit der Inszenierung von Wirklichkeit auseinandersetzte.

Wie so oft kommt das Beste zum Schluss: Diese Fotos wurden nicht nur vor der Müllentsorgung gerettet, sie sind auch öffentlich verfügbar. Unter dem Titel „Daily GDR“ wird jeden Tag auf Facebook ein Motiv gezeigt und zum Kauf angeboten. Die Preise reichen von 36 bis 60 Euro (ausschließlich Originalabzüge, gerahmt). Nicht nur für Kaufinteressierte eine Möglichkeit, ein Stück Fotografiegeschichte zu entdecken, das einen anderen Platz verdient als den Altpapiercontainer.

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