Die nackte Wahrheit

Die „Naked Art Tours“ des australischen Künstlers Stuart Ringholt lassen die James-Turrell-Retrospektive in Canberra in einem ganz neuen Licht erscheinen.

James Turrell Naked Tour Stuart Ringholt_01

Teilnehmer der Nacktführung von Stuart Ringholt, „Preceded by a tour of the show by artist Stuart Ringholt, 6-8pm. (The artist will be naked. Those who wish to join the tour must also be naked. Adults Only.)“, 2011-heute. Photo© Christo Crocker/National Gallery of Australia

Die Haut ist bekanntermaßen das größte Sinnesorgan des menschlichen Organismus. Wer Kunstbetrachtung vor allem als sinnliche Erfahrung schätzt, sollte sich folglich dem Kunstgenuss in ausgezogenem Zustand widmen, statt nur die Augen zu gebrauchen – da die Haut eine viel größere Fläche aufweist als die des Auges, müsste die Wirkung also ungleich größer ausfallen. Aber abgesehen davon, dass es die meisten Kunstbetrachter wahrscheinlich merkwürdig bis störend fänden, wenn einer von ihnen nackt durch die Ausstellung wanderte, scheint es ihnen gar nicht erst in den Sinn zu kommen, dass man Kunst auch über die Haut aufnehmen kann.

Warum nicht? Weil im Gegensatz zum Auge die Haut nicht als mit dem Hirn gekoppelt wahrgenommen wird. Das, was das Auge aufnimmt, findet fast immer sofort seinen Weg ins Hirn (es sei denn, Drogen oder Doofheit versperren den Weg). Das Hirn wiederum kann auch ganz ohne Augen etwas sehen, weshalb man ja auch vom inneren Auge spricht – aber von einer inneren Haut ist nie die Rede, obwohl doch das Innere sehr wohl als Ort des Fühlens gilt.

Wie auch immer, nackt durch eine Ausstellung zu laufen zur Erhöhung einer sinnlichen Kunsterfahrung hat sich jedenfalls nicht durchgesetzt. Und deshalb kommt es einem erst einmal wie ein Aprilscherz vor, wenn auf einmal jeder Artikel über die James Turrell-Retrospektive in der National Gallery of Australia mit Fotos bebildert ist, die eher nach einer Aktion von Spencer Tunick aussehen. Die nackten Menschen, die da ihre bloße Haut dem Lichte James Turrells aussetzen, sind aber keine Performanceteilnehmer, sondern ganz normale Ausstellungsbesucher. Nackt sind sie deshalb, weil sie im angezogenen Zustand nicht an der „Naked Art Tour“ teilnehmen dürften, die der australische Künstler Stuart Ringholt anbietet.

Stuart Ringholt Naked Art Tour

Stuart Ringholt bei einer seiner Nacktführungen.

Ringholt ist zwar viel weniger berühmt als Turrell, aber in Australien zumindest einigermaßen bekannt, wenn auch nicht wegen der Nackt-Führungen, die er seit 2011 durch unterschiedliche Ausstellungen gibt. Aber ausgerechnet der eher skurrile Auswuchs eines ansonsten ernsthaften Schaffens hat es jetzt geschafft, den Ruhm des aktuell bekanntesten Lichtkünstlers der Welt zu überstrahlen, zumindest für eine kurze Zeit: Wer auf Google nach der Ausstellung sucht, bekommt als Treffer fast nur Artikel über die „Naked Tours“. Turrell selbst hat die Aktion natürlich abgesegnet, bedient sie doch hervorragend seine Vorstellung von Licht als körperlicher Erscheinung und Erfahrung. Und wer nicht nackt ins Lichtbad tauchen will, kann die Ausstellung natürlich auch im bekleideten Zustand besuchen. Manche Kunst hat so oder so die Macht, einem die Schuhe auszuziehen, egal ob man welche trägt oder nicht. Vielleicht hat am Ende das kleine Auge doch mehr Sinnesmacht als die Haut.

Ein Kommentar

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.